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§ 77

Unerledigte Vorlagen am Schluß der Wahlperiode

Mit Ablauf oder vorzeitiger Beendigung der Wahlperiode des Landtages gelten alle Vorlagen, Anträge und Anfragen als erledigt. Unerledigte Petitionen werden in der nächsten Wahlperiode weiter beraten.

Kommentar

1. Zur Bedeutung der Bestimmung

Unter dem Begriff der Diskontinuität werden die Rechtsfolgen zusammengefasst, die sich aus der Beendigung der Wahlperiode – sei es durch Zeitablauf, sei es durch Auflösung des Landtags – ergeben. § 77 betrifft einen Ausschnitt dieses Komplexes, nämlich die sog. materielle oder sachliche Diskontinuität. Hiervon zu unterscheiden ist die formelle oder personelle Diskontinuität, die das Erlöschen der Repräsentationsbefugnis der Abgeordneten bezeichnet: Das Parlament findet mit Ablauf der Wahlperiode zwar nicht als verfassungsrechtliche Institution, wohl aber in seiner konkret-personellen Zusammensetzung sein Ende.

Dem Prinzip der materiellen Diskontinuität wird – obwohl weder im Grundgesetz noch in der Landesverfassung ausdrücklich geregelt – der Rang von Gewohnheitsrecht zuerkannt, das auf der Ebene des Verfassungsrechts angesiedelt wird (vgl. hierzu im Einzelnen Klein/Schwarz in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 39 RN 68; Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 126 GO-BT, RN 2; Aumüller, Das Diskontinuitätsprinzip im Parlamentsrecht, 2023, S. 190 f.). Das Prinzip steht also im Kern nicht zur Disposition des Geschäftsordnungsgebers. Der neue Landtag soll nicht von vornherein durch Beratungen und Zwischenentscheidungen des Landtages der vorhergehenden Wahlperiode belastet werden.

2. Die Konsequenzen der materiellen Diskontinuität im Einzelnen

§ 77 erstreckt die materielle Diskontinuität auf „alle Vorlagen, Anträge und Anfragen“. Ausdrücklich ausgenommen sind lediglich unerledigte Petitionen.

2.1  Der Begriff „Vorlagen“ umfasst nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Gesetzentwürfe und Anträge der Landesregierung.

Gesetzentwürfe sind mit der Schlussabstimmung (§ 30) erledigt. Endet die Wahlperiode vor diesem Zeitpunkt, müssen sie erneut eingebracht werden. Endet die Wahlperiode dagegen nach diesem Zeitpunkt, aber vor Ausfertigung und/oder Verkündung, so greift der Grundsatz der materiellen Diskontinuität nicht ein; in diesem Fall kann das Gesetzgebungsverfahren also fortgesetzt werden (Klein, aaO., Art. 39 RN 60; Troßmann, aaO., § 126 GO-BT, RN 3.1).

Als Anträge der Landesregierung, die der Diskontinuität unterfallen, kommen etwa in Betracht: Anträge auf Zustimmung gemäß Artikel 41 LV, Anträge, mit denen gemäß Artikel 43 Abs. 1 LV die Vertrauensfrage gestellt wird, Anträge auf Einwilligung in die Aufhebung einer Sperre gemäß §§ 36, 22 Satz 3 LHO, Anträge auf Einwilligung des Landtags in Erwerb oder Veräußerung von Grundstücken gemäß § 64 Abs. 2 LHO, Anträge auf Einwilligung des Landtags in die Veräußerung von Anteilen an privatrechtlichen Unternehmen gemäß § 65 Abs. 6 LHO. Etwas anderes gilt für Anträge der Landesregierung auf Entlastung (Artikel 63 LV, § 114 LHO); sie sind an den Landtag als Institution gerichtet und brauchen daher nicht wiederholt zu werden, wenn die Wahlperiode des Landtags endet, bevor es zu einer Entscheidung über die Entlastung kommt (vgl. Troßmann, aaO., § 126 GO-BT, RN 3.3; Jekewitz, Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit im Staatsrecht der Neuzeit und seine Bedeutung unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes, 1977, S. 291 f.).

Vorlagen der Landesregierung, die keiner Beschlussfassung bedürfen (z. B. Berichte), werden vom Ablauf der Wahlperiode insofern nicht berührt, als es dem neu gewählten Landtag überlassen bleibt, solche Vorlagen zu beraten oder weiterzuberaten (vgl. Troßmann, aaO., § 126 GO-BT, RN 3.5). Das Gleiche gilt für andere Berichte, die keiner Beschlussfassung bedürfen (vgl. etwa den Bericht der oder des Datenschutzbeauftragten). Sofern derartige Berichte vor Beendigung der Wahlperiode einem Ausschuss überwiesen worden sind und an dieser Entscheidung festgehalten werden soll, ist allerdings eine erneute Ausschussüberweisung durch den neuen Landtag erforderlich, weil Ausschussüberweisungen mit Beendigung der Wahlperiode aufgrund der personellen Diskontinuität hinfällig werden (Troßmann/Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Ergänzungsband, 1981, § 125 GO-BT, RN 3).

2.2  „Anträge“ im Sinne des § 77 sind solche von Abgeordneten. Erfasst werden selbständige Anträge, Entschließungsanträge, Änderungsanträge sowie Geschäftsordnungsanträge. Zur Bedeutung dieser Antragsformen und zu den maßgebenden Differenzierungskriterien wird auf Erl. 2 zu § 31 verwiesen.

2.3  Mit den „Anfragen“, die gemäß § 77 der materiellen Diskontinuität unterfallen, sind die Anfragen im Sinne des § 35 Abs. 1 gemeint. Auf diese Anfragen braucht die Landesregierung also nicht mehr zu reagieren, wenn die Wahlperiode vor der Beantwortung endet. Eine Beantwortung nach diesem Zeitpunkt ist indessen nicht aus Rechtsgründen ausgeschlossen. Ob die Landesregierung – sei es aus Gründen der Courtoisie, sei es wegen der Bedeutung der Angelegenheit – noch reagiert, ist eine Frage politischen Ermessens (Jekewitz, aaO., S. 272; Aumüller, aaO., S. 181).

2.4  In § 77 nicht ausdrücklich geregelt ist die Frage, ob sog. schlichte Parlamentsbeschlüsse, durch die die Regierung zu einem bestimmten Handeln – etwa zur Vorlage eines Berichts – aufgefordert wird, der materiellen Diskontinuität unterfallen. Die hierzu in der Literatur vertretenen Auffassungen sind nicht einheitlich. Die wohl herrschende Ansicht (vgl. Jekewitz, aaO., S. 297) differenziert zwischen Beschlüssen, die ein Tätigwerden der Regierung ohne Rücksicht auf die konkret-personelle Zusammensetzung des Parlaments und der Regierung verlangen, und Beschlüssen, die eindeutig durch die politischen Konstellationen der Wahlperiode, in der sie gefasst werden, bestimmt sind; letztere (Beschlüsse mit Kontrollcharakter) sollen der materiellen Diskontinuität unterfallen, während erstere über das Ende einer Wahlperiode hinaus wirksam bleiben sollen.

Dieser Auffassung ist entgegengehalten worden, dass die von ihr vorgenommene Differenzierung zwar auf den ersten Blick überzeugend erscheinen mag, dass es aber für sie keine in der Praxis brauchbaren, eindeutigen und objektiven Kriterien gibt. Die Ungewissheit über die jeweilige Funktion von Berichtsersuchen stelle Regierung und Parlament vor kaum lösbare Interpretationsprobleme; aus Gründen der Praktikabilität seien daher alle Berichtsersuchen als erledigt anzusehen mit der Folge, dass es dem Ermessen der Regierung überlassen sei, einen Bericht vorzulegen oder aber abzuwarten, ob das neu gewählte Parlament wiederum einen entsprechenden Beschluss fasse (Linck, Berichte der Regierung an das Parlament, DÖV 1979, S. 122 f.).

Die eingangs umrissene herrschende Ansicht verdient den Vorzug, weil ihre differenzierende Betrachtung dem Wesen und der Bedeutung der materiellen Diskontinuität gerecht wird. Die ihr entgegengehaltenen Schwierigkeiten mögen zwar im Einzelfall bestehen; sie sind indessen überwindbar und dürfen daher nicht überbewertet werden. So gibt es denn auch in der Praxis des Schleswig-Holsteinischen Landtags etliche Beispiele von Berichtsaufträgen des Parlaments an die Regierung, deren Adressat erkennbar nicht nur die derzeitige, sondern die jeweilige Regierung ohne Rücksicht auf das Ende der Wahlperiode des beschließenden Parlaments war. Exemplarisch werden hier einige dieser Beispiele dargestellt:

  • Im Rahmen der Beratung der Landeshaushaltsrechnung 1975 und der Bemerkungen des Landesrechnungshofs für das Haushaltsjahr 1975 hatte der Landtag entsprechend der Empfehlung des Finanzausschusses (Drs. 8/1881) beschlossen, die Landesregierung aufzufordern, die in dem Bericht des Finanzausschusses angeregten Maßnahmen einzuleiten und dem Landtag bis zum 30. Juni 1979 über die eingeleiteten Maßnahmen zu berichten. Dieser Beschluss ist in der letzten Tagung des Landtags der 8. Wahlperiode am 8. März 1979 gefasst worden (vgl. Plenarprotokoll S. 5599). Der 30. Juni 1979, bis zu dem die Landesregierung berichten sollte, fiel bereits in die 9. Wahlperiode. Die Landesregierung hat den angeforderten Bericht am 28. Juni 1979 erstattet (vgl. Drs. 9/55). Zu verweisen ist ferner auf die die Haushaltsrechnungen 1992 und 1993 betreffenden Berichte über die Einleitung von Maßnahmen, die zu Beginn der 14. Wahlperiode noch ausstanden (vgl. Plenarprotokoll 14. Wahlperiode S. 15).
  • In seiner 16. Sitzung am 17. März 1976 hat der Landtag den Antrag der FDP-Fraktion (Drs. 8/260), die Landesregierung zu ersuchen, dem Landtag bis zum 15. August 1976 einen Bericht über Unterrichtsversorgung, Lehrerbedarf und Lehrerbeschäftigung an den schleswig-holsteinischen Schulen zuzuleiten und diesen Bericht in den folgenden Jahren jeweils bis zum 15. August fortzuschreiben, angenommen mit der sich aus einem ebenfalls von der FDP-Fraktion gestellten Antrag (Drs. 8/298) ergebenden Maßgabe, dass die Berichterstattung für das Jahr 1976 als erledigt angesehen wird (Plenarprotokoll S. 1129). Die Landesregierung hat seither mehrfach den angeforderten Bericht erstattet (vgl. Drs. 8/934 vom 29. November 1977, 8/1858 vom 20. Dezember 1978, 9/415 vom 11. Februar 1980, 9/810 vom 7. Januar 1981; zuletzt: Drs. 20/1675 vom 18. November 2023).
  • In seiner 23. Sitzung am 21. März 2013 hat der Landtag auf Antrag von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, PIRATEN und der Abgeordneten des SSW (Drs. 18/628) die Landesregierung gebeten, im ersten Quartal jeden Jahres einen Europabericht vorzulegen, der sich in zwei Teile gliedern soll. Ein entsprechender Bericht wird seitdem regelmäßig und zuletzt im Februar 2024 (Drs. 20/1945) unter Berufung auf Drs. 18/628 vorgelegt.
  • Mit Beschluss in der 119. Sitzung am 29. April 2016 wurde die Landesregierung gebeten, „dem Landtag bis zum Ende der 18. Wahlperiode und danach regelmäßig zur Mitte einer jeden Wahlperiode einen Subventionsbericht vorzulegen“ (Drs. 18/4066; vgl. hierzu auch Umdruck 20/2650). Dieser Bericht wurde zuletzt im Januar 2020 vorgelegt (Drs. 19/1915).

2.5  Hinsichtlich der in § 77 ebenfalls nicht ausdrücklich geregelten Immunitätsangelegenheiten gilt Folgendes: Der Immunitätsschutz knüpft an die Abgeordneteneigenschaft an und findet daher mit dem Ablauf der Wahlperiode sein Ende. Da sich die Immunität auf das Verfassungsorgan Parlament in seiner konkret-personellen Zusammensetzung und Handlungsfähigkeit bezieht, ist davon auszugehen, dass sowohl ein Antrag auf Aufhebung der Immunität als auch eine beschlossene Aufhebung der Immunität der materiellen Diskontinuität unterliegen und damit im Zeitpunkt der Beendigung der Wahlperiode gegenstandslos werden. Ein gestellter, aber vor Ablauf der Wahlperiode nicht beschiedener Antrag auf Aufhebung der Immunität eines wiedergewählten Abgeordneten muss also wiederholt werden. Ein solcher Antrag kann auch wiederholt werden, wenn er in der vorhergehenden Wahlperiode abgelehnt wurde. Ein Ermittlungsverfahren, dessen Durchführung bereits genehmigt war, darf nur mit Genehmigung des neu gewählten Landtags fortgesetzt werden. Ein aufgrund der generellen Genehmigung des Landtags (vgl. Erl. 3 zu § 44) eingeleitetes Ermittlungsverfahren kann allerdings – nach einer entsprechenden Mitteilung an die Präsidentin oder den Präsidenten – fortgeführt werden, sofern der neu gewählte Landtag die einschlägigen Immunitätsgrundsätze insoweit unverändert übernimmt (vgl. hierzu im Einzelnen Nr. 191 bis 192a der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren – RiStBV, BAnz AT 19.06.2023 B1; Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 286 ff.; Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Vorbem. zu § 125 GO-BT).

3. Ausnahmen von der materiellen Diskontinuität

3.1  Ausgenommen von der materiellen Diskontinuität sind nach Satz 2 unerledigte Petitionen. Diese Regelung ist eine zwingende Konsequenz des verfassungsrechtlich gewährleisteten Petitionsrechts: Artikel 17 GG verpflichtet die Stelle, bei der die Bitte oder Beschwerde einzureichen ist, nicht nur zur Entgegennahme, sondern auch zur sachlichen Prüfung der Petition und zu einer schriftlichen Mitteilung an den Petenten, aus der sich die Art der Erledigung ergibt (BVerfGE 2, 225, 230 ff.; vgl. auch BVerfGE 13, 54, 90). Dem würde es widersprechen, wenn ein neu gewählter Landtag eine in der vorhergehenden Wahlperiode eingegangene und nicht erledigte Petition unbearbeitet zu den Akten nehmen würde. Adressat der Petition ist das Parlament als Institution und nicht das Parlament in seiner konkret-personellen Zusammensetzung (Troßmann, aaO, § 126 GO-BT, RN 3.4; Waack, in: Becker/Brüning/Ewer/Schliesky, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2021, Art. 19 RN 29). Eine vor Ablauf der Wahlperiode eingegangene und dem Petitionsausschuss überwiesene Petition ist daher in der nächsten Wahlperiode durch den Petitionsausschuss des neu gewählten Landtags weiterzubehandeln. Bei einer Petition, die vor Ablauf der Wahlperiode noch nicht an den Petitionsausschuss überwiesen war, ist gemäß § 41 Abs. 1 zu verfahren.

3.2  Keine Konsequenzen hat die materielle Diskontinuität ferner für den Regelungsbereich der Artikel 48 und 49 LV: Da die Initiative aus dem Volk (Artikel 48 LV) Teil der Willensbildung des Volkes ist und sich an den Landtag als Verfassungsorgan – also nicht in seiner konkret-personellen Zusammensetzung – richtet, bleibt die Pflicht des Landtags, sich mit einer solchen Initiative zu befassen, über den Ablauf einer Wahlperiode hinaus bestehen. Des Weiteren muss ein Volksentscheid (Artikel 49 LV) auch dann herbeigeführt werden, wenn das entsprechende Volksbegehren etwa unmittelbar vor einer Neuwahl zustandegekommen ist. In diesem Fall würde sich der Volksentscheid allerdings erübrigen, wenn der neu gewählte Landtag den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage der Initiative unverändert annimmt (vgl. Hübner, in: v. Mutius/Hübner/Wuttke, Kommentar zur Landesverfassung, 1995, Art. 41 RN 4; Schulz, in: Becker/Brüning/Ewer/Schliesky, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, 2021, Art. 49 RN 10).

Kommentar zur Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages

Stand: 4. April 2024

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